An diesem Termin wurde der langjährige Senatspräsident und Justizsenator Henning Scherf zur Praxis der Brechmittelvergabe, zur damaligen politischen Stimmung und dazu befragt, ob es von Seiten der Politik Druck gab, der sich letztlich auch auf das Handeln des Angeklagten Arztes niederschlagen konnte.
Zunächst erschien Henning Scherf nicht. Die Richterin trug vor, dass der Termin auf Betreiben der Frau, die Scherfs Termine koordiniert, von 13 Uhr auf 9.15 Uhr vorverlegt worden sei. Das Gericht entschied, Scherf mit einem Ordnungsgeld von 150 Euro zu belegen, ihm die durch sein Ausbleiben entstehenden Gerichtskosten aufzuerlegen und ihn polizeilich vorführen zu lassen. Die Sitzung wurde bis 10.30 Uhr unterbrochen.
Wie sich dann ergab, kam es nicht zur Vorführung, Henning Scherf konnte telefonisch erreicht werden. Vor Gericht machte er geltend, gerade aus einem mehrwöchigen Urlaub gekommen zu sein und auf seinem Schreibtisch nur die – ältere – Ladung für 13 Uhr vorgefunden zu haben, darüber hinaus von der Neuansetzung des Termines nicht unterrichtet worden zu sein. Gegen das Ordnungsgeld wolle er sich wehren.
Dann begann die Befragung. Scherf führte aus, die Brechmittelvergabe sei 1992 „einvernehmlich“, „in gleicher Abstimmung mit Hamburg, Niedersachsen“ eingeführt worden; die Einführung sei „gründlich vorbereitet“ gewesen, es hätten „alle zugestimmt“. Die Vergabe sei dann „über lange lange Jahre gelaufen“, „ohne dass es Komplikationen gegeben habe“. Zweimal sei das OLG Bremen mit der Brechmittelpraxis befasst gewesen, zweimal habe es gesagt, diese sei in Ordnung. Auch das Bundesverfassungsgericht habe das gesagt.
Es seien seitens des Antirassismus-Büros Demos gemacht worden, die das das Gesundheitsressort und auch Ärzte „beeindruckt“ hätten. Sein Abteilungsleiter sei daraufhin auf ihn zugekommen, dass „im Sinne einer gesicherten Beweisführung“ etwas geschehen müsse. Tatsächlich sei, so Scherf aufgrund der „von interessierter Seite vorgelegten Behauptungen“ ein medizinischer Sachverständiger von seiner Tätigkeit zurückgetreten, obwohl dieser selbst die Brechmittelvergabepraxis gar nicht beanstandete. Da sich die Ärzte des Ärztlichen Beweissicherungsdienstes „in ihren Arbeitsmöglichkeiten massiv beeinträchtigt“ sahen, habe es einen Brief an die Gesundheitssenatorin Wischer gegeben, einen „vorformulierten“ Brief, „nicht von mir formuliert“. Es sei klar gewesen, „ich kann diesen Zustand nicht hinnehmen, wir müssen klar sagen, wer zuständig ist“.
Dieser Brief wurde danach verlesen. Hierin formulierte Scherf, „an der Zulässigkeit“ der Brechmittelvergabe „bestehen keinerlei berechtigte Zweifel“, die Äußerungen aus dem Gesundheitsressort seien „nicht hinnehmbar“: „Ich muss Sie bitten, dass Sie die Erklärungen Ihres Hauses zuvor mit mir abstimmen“. Andernfalls seien die Differenzen im Senat auszutragen.
Trotz der in diesem Brief zu Tage tretenden Differenzen antwortete Scherf auf die Frage der Richterin, ob es intensive Diskussionen um die Brechmittelpraxis gegeben habe, dass „keine einzige senatorische Dienststelle“ an der Praxis etwas beanstandete, auch die Staatsanwaltschaft nicht, auch nicht die Richter. Die Brechmittelvergabe sei ein „dringend benötigtes Beweissicherungsverfahren“ gewesen, „unverzichtbar“,sie sei „Beweissicherungsalltag“ gewesen und da „gab es überhaupt keine Schwierigkeit“, „kein einziger Fall“ war schwierig, es gab „keine Kritik“ und auch „keinen Anlass zu Kritik“.
Er, Scherf, habe sich immer entschieden vor seine Ermittlungsbehörden gestellt, und „die Bremer Staatsanwaltschaft hat das entsprechend verstanden, dass ich hinter Ihnen stehe“.
Die Richterin verwies darauf, dass der Brief laut Vermerk an mehrere Staatsanwälte in Durchschrift ging. Dazu konnte Scherf nichts sagen.
Die Richterin sagte, er habe sich in diesem Falle „medizinisch-ethische Einmischungen verbeten“ und wollte wissen, ob es weitere Einmischungen gab.
Scherf antwortete lauter, dass seiner Erinnerung nach der Tod Laye Condés 2005 für alle „eine große Überraschung“ war. „Wir wollten niemanden in Todesgefahr bringen.“ Damals sei erst hochgekommen, dass es schon 2001 in Hamburg auch einen Brechmitteltoten gegeben habe. Als die Richterin erwähnt, dass es im Anschluss an ebendiese Tötung von Achidi John 2001 auch eine Debatte in der Bremer Bürgerschaft gegeben habe, erinnerte sich Scherf an nichts und beharrte darauf, dass das erst mit dem „katastrophalen Unglücksfall“ 2005 alles auf den Tisch kam. Es habe von seiner Seite aus erst Kontrolle gegeben, wenn jemand im Gefängnis gestorben sei, nicht im Alltag.
Die Verteidigung hakte nach, dass es 2001 eine breite Diskussion gegeben habe, zum Beispiel auch „ein Schreiben der Strafverteidigerinitiative an Ihr Haus“. Nach dem Tod von Achidi John hätten alle Bundesländer von der Brechmittelvergabe Abstand genommen, „einzige Ausnahmen: Schill und Sie, in Hamburg und bei Ihnen“. Dafür gäbe es „zwei Erklärungen: Sie waren sich mit Herrn Schill einig, oder Sie haben sich so wenig um das Justizressort gekümmert, dass es Ihnen egal war“.
Hierauf wurde es sehr laut. Scherf verwahrte sich dagegen, mit Schill in einem Atemzug genannt zu werden, das sei „eine Frechheit“ und er fühle sich „politisch angegriffen“. 1992 hätten alle die Brechmittelvergabe einvernehmlich eingeführt, das Bundesverfassungsgericht und das OLG Bremen hätten nichts beanstandet. Die Verteidigung sagte dazu, dass Scherfs „Erinnerung bisher nicht gut“ gewesen sei.
Die Richterin führte aus, dass nach der Tötung eben noch Hamburg, Berlin und Bremen an der Brechmittelvergabe festhielten. Es habe 2001 eine Diskussion in der Bürgerschaft und sie gehe davon aus, dass Scherf daran teilgenommen habe.
Daraufhin führte Scherf aus, dass er 2005 in der Debatte um den Misstrauensantrag gegen den damaligen Innensenator Röwekamp stark gemacht habe, dass es „keine Vorverurteilung“ geben könne. Das wollte er in zwei Richtungen verstanden wissen. Zum einen als Kritik an Röwekamp, der vorverurteilt war, sich dann aber auch entschuldigt habe. Zum anderen als Begründung dafür, dass er nicht vorverurteilen wollte und eben an der Großen Koalition solange festhalten wollte, bis der Todesfall entschieden sei.
Er habe sich nie zu Brechmitteln geäußert, die Strafjustiz sei einvernehmlich gewesen, er habe sich „auf meine Leute verlassen“.
Die Richterin stellte dar, dass der Angeklagte Volz gesagt habe, er hätte mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen müssen, wenn er die Brechmitteleinsätze nicht durchgeführt hätte. Darauf (und später auf ähnliche Ausführungen der Verteidigung) antwortete Scherf, dass Arbeitsverweigerung wie überall bestimmt disziplinarrechtliche Folgen gehabt hätte, er sich aber nicht vorstellen könne, dass ein Arzt, der aus gesundheitlichen Gründen einen Brechmitteleinsatz nicht durchführt, rechtlich belangt worden wäre. Das jemand rechtlichen Konsequenzen „angedroht hat, das müssten Sie mir richtig zeigen“.
Ob er sich mit dem damaligen Leitenden Oberstaatsanwalt Frischmuth (der am 30.9. als Zeuge geladen ist) auf Dienstebene ausgetauscht habe wisse er nicht mehr, aber „wir sind alte Freunde, wir mögen uns sehr, wir haben immer über alles geredet“, aber ob auch dienstlich die Sprache auf die Brechmittelpraxis kam, erinnere er nicht mehr. Herrn Birkholz, den Chef von Volz beim Ärztlichen Beweissicherungsdienst, kenne er nur dem Namen nach. Sein Vorgänger sei ihm bekannt gewesen.
Scherf führte danach aus, dass es damals eine Zeit war, in der die Zahl der Drogentoten stets anstieg, das sei eine „dramatische Bedrohung“ gewesen, es habe starke Kritik aus den Medien gegeben, von Justiz, Staatsanwaltschaft und Polizei habe man gefordert: „bewahrt uns davor“.
Das AntiRassismusbüro habe gesagt, es gäbe bei der Brechmittelvergabe Rassismus, aber es sei nun mal so gewesen, dass Drogen von „überwiegend Schwarzafrikanern“ gehandelt worden seien.
Die Richterin fragte nach, ob Scherf bekannt sei, dass bei einer „Exkorporation“ alle Kügelchen als Beweismittel sichergestellt werden sollten. Darauf sagte Scherf, dass er sich das gut vorstellen könne, aber die Verfügungen nicht kenne. In seinem Haus habe es „exzellente Juristen“ gegeben, auf die er sich verlassen habe.
Die Richterin nannte ein Zitat aus der Debatte in der Bürgerschaft über den Misstrauensantrag von 2005 und wollte wissen, ob dies die Stimmung treffend wiedergäbe. Demnach hat der Abgeordnete Kastendieck (CDU) damals ausgeführt, dass es rechtlichen Grundlagen und einen politischen Konsens darüber gäbe, dass bei der Brechmittelvergabe auch Zwang eingesetzt werde. Alle Verantwortlichen hätten das gewusst und auch mitgetragen.
Scherf bestätigte, dass das die betraf, „die mit der Sache befasst waren“.
Die Richterin trug daraufhin ein Zitat des Abgeordneten Güldner (Grüne) aus derselben Debatte 2005 vor, demzufolge es vier Jahre zuvor, 2001 (beim Antrag der Grünen auf sofortigen Stopp der Brechmittelvergabe) die Chance zum Ausstieg gegeben hätte. Scherf erinnerte sich an die Debatte wieder nicht und gab an, vielleicht vertreten worden zu sein. Erst 2005 sei das Thema mit dem Misstrauensantrag „explodiert“.
Die Vertreterin der Nebenklage führte aus, Scherf habe sich mehrfach auf rechtliche Absicherung berufen durch das Bundesverfassungsgericht und das OLG Bremen. Diese Urteile seien aber erst 1999 ergangen und wollte wissen, ob es vorher überhaupt eine rechtliche Überprüfung der Maßnahme gegeben habe – Scherf antwortete, dass er nicht dabei gewesen sei, dass es aber ständige Abstimmungsgespräche mit anderen Bundesländern gab und man sich natürlich auch rechtlich abgesichert habe. Im Übrigen sei 1999 aus seiner Sicht nicht spät. Auf Insistieren der Nebenklägerin Maleika, die Kritik der Gesundheitssenatorin datiere aus 1995 und damals gab es noch keine Rechtssprechung, ob es denn da rechtliche Gutachten in Bremen gegeben habe, sagte Scherf: „Wir fühlten uns zuständig“, „wir fühlten uns kompetent“. Man disqualifiziere sich, wenn man im Alltag erst auf Gutachten warte.
Die Verteidigung wollte wissen (vor dem Hintergrund, dass Scherf ausgesagt hatte, es wäre in der Justiz immer alles einvernehmlich gewesen), ob Scherf wirklich bezeugen könne, dass die jetzige Generalstaatsanwältin – ob in Ihrer heutigen Funktion oder auch vor dieser Zeit – sich einvernehmlich zur Brechmittelvergabe geäußert habe. Nachdem Scherf zum wiederholten Male die Jahreszahlen durcheinander warf, antwortete er schließlich, er habe „Aktenvermerke in Erinnerung“, nach denen „alle einverstanden“ gewesen seien.
Verteidiger Joester gab noch einmal auf 2001 zurück, darauf dass alle anderen Bundesländer von der Brechmittelpraxis abrückten. Scherf sagte, dass er von den Vorgängen 2001 nichts wisse und bezeichnete die Ausführungen Joesters als „Blödsinn“: Nachdem diese sein Erstaunen zeigte, dass Sachverhalte von Scherf so bezeichnet würden, antwortete Scherf, dass dies „Polemik“ sei.
Die Verteidigung führte aus, dass die Brechmittelpraxis 2006 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Folter gebannt wurde. Der Polizeipräsident Bremens habe sich jüngst bei den Angehörigen entschuldigt. In seiner – Joesters – 40jähriger Tätigkeit als Anwalt hätten drei Mandanten Suizid begangen. Diese gingen ihm bis heute nach und er frage sich bis heute, ob er denn was falsch gemacht habe. Vor diesem Hintergrund „könnte es doch sein, dass ein Justizsenator darüber nachdenkt“, Worte des Bedauens für die Opfer der Brechmittelvergabe zu finden.
Scherf erwiderte, dies sei „grenzwertig“, es seien ethisch-medizinische Fachgespräche, die hier im Prozess überhaupt keine Relevanz hätten. Daraufhin erwiderte Joester, dass dies doch relevant wäre, da die Politik entschieden habe, dass dieser Prozess nicht eingestellt würde, „die Politik entscheidet, dass einer hier sitzt“.
Scherf sagte, ja er könne ja dem Bundesverfassungsgericht und so weiter allen mitteilen, dass Sie „alle Dussel“ sind. Der Verteidiger erwiderte, er rede über die Zeit nach dem Brechmitteltod in Hamburg 2001, nicht über Ende der 1990er, als das Bundesverfassungsgericht sich kurz äußerte. Daraufhin erwiderte Scherf, 1992 hätten alle die Brechmittelvergabe einvernehmlich eingeführt.
Abschließend sagte Joester, er habe zur Kenntnis genommen, dass nicht geantwortet würde und es auch keine Entschuldigung gäbe.
In der Abkündigung gab die Richterin bekannt, dass sie den Cousin von Laye Condé, Mamadi Touray, nunmehr telefonisch erreicht habe (es war immer mal wieder Thema bei Gericht, dass kein Kontakt mehr zu Angehörigen bestehe). Dieser sei vom Gericht für den 14.10. geladen worden. Daraufhin sagte auch die Nebenklägerin, dass es seitens der Initiative in Gedenken an Laye Condé Kontakt nach Guinea gegeben habe zu einem weiteren Cousin und dass bei diesem Gespräch auch die Mutter Laye Condés mit im Raum gewesen sei.
Zu beachten ist derr Beginn des nächsten Prozesstages: der nächste Gerichtstermin am Montag, 30.09., beginnt um 10.00 Uhr. Dann wird der frühere Leitende Oberstaatsanwalt Frischmuth gehört.
Verhandlungsdauer (nachdem Scherf eingetroffen war): 10.30 -12 Uhr
Hey, gut geschrieben und informativ!
Danke für eure Arbeit,
Grüße aus Hamburg
Pingback: Bericht: „Brechmittelprozess“, 20. Prozesstag « end of road