Am Montag wird mit Henning Scherf einer der zentral Verantwortlichen für die jahrelange, folterähnliche Brechmittelpraxis in Bremen vor Gericht aussagen. Ende des Monats wird auch der ehemalige Leitende Oberstaatsanwalt Jan Frischmuth als Zeuge vernommen. „Damit besteht nun nach fast neun Jahren im dritten Prozess erstmals die Chance, zusätzlich zur Feststellung der individuellen Schuld des Angeklagten, erste Schritte in Richtung einer politischen Aufarbeitung zu machen“, sagt dazu Ute Bürger von der „Initiative in Gedenken an Laye Alama Condé“. Die politische Verantwortung von Henning Scherf für den Einsatz von Brechmitteln ist aus Sicht der Initiative so alt wie die Brechmittelpraxis in Bremen selbst – beides begann mit seinem Amtsantritt als Justizsenator im Jahre 1991. In diesem Amt hat Scherf die Fortführung der Brechmittelfolter gegen jede Kritik im Senat durchgesetzt.
Zunächst noch als polizeiliche Willkürmaßnahme ohne rechtliche Grundlage und ohne Wissen der Staatsanwaltschaft spritzte der Polizeiarzt Karl Heinrich Männche Verdächtigen aus Eigeninitiative das Brechmittel Apomorphin (die Ermittlungen gegen ihn wurden eingestellt). In den Jahren 1992 bis 2004 hat sich Bremen mit über 1.000 Brechmitteleinsätzen als europäische Hauptstadt der Brechmittelfolter einen Namen gemacht. 2006, ein Jahr nach der Tötung von Laye Condé, machte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der umstrittenen Praxis ein Ende, da diese gegen das Folterverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention verstieß.
Auch noch nach dem Tod Condés rechtfertigte Henning Scherf die Brechmittelfolter damit, der Senat habe „über lange Zeit dafür auch auf der fachlichen Ebene von allen Seiten Bestätigung bekommen“ (Bürgerschaftsdebatte vom 26. Januar 2005), Tatsächlich gab es aber von Beginn an in Bremen und bundesweit massive Kritik an der entwürdigenden Polizeipraxis, die auch rechtlich umstritten war. Anders als das OLG Bremen untersagte zum Beispiel das OLG Frankfurt 1996 die zwangsweise Vergabe von Brechmittel. Nur in fünf von 16 Bundesländern kamen Brechmittel überhaupt zum Einsatz. Und auch international war die zwangsweise Brechmittelvergabe geächtet: 33 Staaten des Europarates lehnten sie ab, darunter Länder wie Albanien die Ukraine und die Türkei.
Eindeutig waren die großen Bedenken aus der Ärzteschaft. Der in Bremen praktizierende Hausarzt H.-J. Streicher berichtete u.a. gegenüber dem Innensenator mehrfach über gesundheitliche Folgen der Brechmittelverfahren:
„Allein in meiner Praxis habe ich zwischen 1996 und 2002 13 Fälle von Schädigungen nach Ipecac-Vergabe festgestellt, wobei die dokumentierten Beschwerden von blutigem Erbrechen, unstillbarem Erbrechen, wochenlangen Oberbauchschmerzen, Pankreatitis, Durchfällen, atonischen Magen-Darmstörungen bis hin zu reaktiv depressiven Zuständen mit Suizidalität reichen. Von anderen Betroffenen ist bekannt, dass sie nach der Prozedur mehrtägige stationäre Behandlung benötigten.“ (Bremer Ärztejournal 2005).
Die Bremer Ärztekammer beschloss schon am 6. November 1996 die Vergabe von Brechmitteln zu Beweissicherungszwecken sei „unter ärztlichen Gesichtspunkten gegen den Willen des oder der Betroffenen nicht zu vertreten.“ Am 31. Mai.2002 zog der Deutsche Ärztetag nach und fasste einen gleichlautenden Beschluss.
Die Große Koalition in Bremen setzte sich über solche Bedenken immer hinweg. Dabei war Justizsenator und Bürgermeister Henning Scherf die zentrale Schlüsselfigur. Das begann schon 1995 mit einem Brief von Scherf an die damalige Gesundheitssenatorin und Parteifreundin Tine Wischer, der wohl auch bei der jetzigen Vernehmung von Scherf eine Rolle spielen wird. Darin wirft der ehemalige Staatsanwalt Scherf der Kollegin in sehr unhöflichem Ton und Gebaren vor, ihre Beschwerden gegen die Brechmittelpraxis seien von „interessierter Seite“ kommend und drohten, die Arbeit der Staatsanwaltschaft einzuschränken. Es gäbe aber „keinerlei Zweifel an der Zulässigkeit“ der Prozedur, ihr Haus habe „keinerlei Befugnis“, den Strafverfolgungsbehörden Vorschriften zu machen, sie habe auch keine Erklärungen zu verfassen, die die Ärzte verunsichern, In Zukunft habe die Kollegin alle Verlautbarungen mit ihm abzustimmen, ansonsten würde er das mit ihr im Senat austragen (Brief vom 20. Dezember 1995, der dem Bremer Landgericht im aktuellen Verfahren vorliegt).
Der damalige Leitende Oberstaatsanwalt Frischmuth unterstützte seinen Dienstherrn Scherf, indem er in einer Verfügung vom 3. Mai1995 festhielt, falls Ärzte sich ohne konkreten Grund weigern sollten, die Brechmittelbehandlung durchzuführen, dies als Strafvereitelung gewertet werden könne (siehe Urteil Landgericht Bremen vom 14. Juni 2011).
Nachdem in Hamburg 2001 der Nigerianer Achidi John durch zwangsweise Brechmittelvergabe getötet worden war, gab es in Bremen noch nicht einmal einen vorübergehenden Stopp der Maßnahme. Zu Begründung eines Antrags seiner Partei an die Bürgerschaft formulierte damals Matthias Güldner (Grüne):
„Ich kann Ihnen sagen, Sie können heute durch Ihre Stimme…verhindern, dass dies weiter stattfindet, ob wir dieses Risiko eingehen oder ob wir es nicht tun. Sollte nach dieser Entscheidung des Parlaments ein ähnlicher Vorfall in Bremen passieren, wissen wir wenigstens, dass er hätte verhindert werden können. Sie hätten heute diesen Antrag annehmen können.“ (Protokoll der Bürgerschaftsdebatte vom 13.12.2001)
Aber die von Henning Scherf geführte Große Koalition blieb bei ihrer vor allem auf Repression setzenden Drogenpolitik. Der CDU-Abgeordnete und Polizeigewerkschafter Rolf Herderhorst brachte es während der Debatte auf den Punkt: „Diese Mörder verdienen nicht noch eine mädchenhafte Behandlung!“
„Spätestens ab dann war klar: die Bremer Behörden nehmen bei der Beweissicherung auch Tote in Kauf“, sagt heute Mathias Brettner vom mittlerweile aufgelösten Antirassismus-Büro, der für seine Kritik an der langjährigen Polizeipraxis 1996 in erster Instanz wegen Volksverhetzung verurteilt, am Ende aber freigesprochen wurde. Im Fall Laye Condé handele es sich buchstäblich um eine Tötung mit öffentlicher Ansage, die hätte verhindert werden können, wenn nicht allen voran Justizsenator Henning Scherf diese unmenschliche Praxis gegen jegliche Widerstände durchgedrückt hätte.
„Wir begrüßen es, dass mit Henning Scherf einer der maßgeblich Verantwortlichen von damals aussagen muss. Es bleibt abzuwarten, ob er sich seiner Verantwortung für die tödlichen Folgen der Brechmittelfolter in Bremen stellt oder ob auch er im Nachhinein behauptet, schon immer gegen den Einsatz von Brechmitteln gewesen zu sein, so wie es der Angeklagte Volz und dessen früherer Chef Birkholz tun“, so Volker Mörchen für die Initiative. Heute stehe zwar allein der Polizeiarzt Igor Volz vor Gericht. Aus Sicht der Initiative sei es aber die Bremer Politik unter Scherfs Führung gewesen, die in Kollaboration mit Staatsanwaltschaft und Gerichten bei ihrer Drogenpolitik buchstäblich über Leichen ging, bevor Alternativen zur Brechmittelfolter akzeptabel erschienen. Die Auftraggeber und politisch Verantwortlichen von damals seien aber bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen worden und hätten auch nie ein Wort des Bedauerns gegenüber der Familie des Getöteten gefunden.